Vor einigen Jahren saß ich am Flughafen fest – ein verspäteter Flug hatte meine Pläne durchkreuzt. Ich ärgerte mich über die „vergeudete” Zeit und las in einem Buch, als sich ein älterer Herr neben mich setzte. „Interessantes Buch”, sagte er schlicht. Was als höfliche Unterhaltung begann, wurde zu einem langen Gespräch. Mein Sitznachbar entpuppte sich als Neurowissenschaftler, dessen Forschung perfekt zu einem Projekt passte, an dem ich schon lange gearbeitet hatte. Diese zufällige Begegnung führte zu einer Zusammenarbeit, die meine Arbeit grundlegend veränderte.
Wäre mein Flug pünktlich gewesen, wären wir uns nie begegnet.
Die Sozialwissenschaft hat einen Begriff dafür: Serendipität – jene glücklichen Zufälle, bei denen wir auf etwas Wertvolles stoßen, nach dem wir gar nicht gesucht haben.
Als Beraterin war ich lange skeptisch gegenüber dem Konzept der Serendipität. Mein Geschäft basiert darauf, Unternehmen zu helfen, Innovationen zu entwickeln und Unsicherheit zu reduzieren – durch wirkliches Verstehen der Probleme und Erarbeiten von Strategien und Prozesse. Serendipität schien das Gegenteil von allem zu sein, wofür ich bezahlt wurde: zu vage, zu unwissenschaftlich, zu unkontrollierbar. Doch die Daten aus der Forschung sind eindeutig: IBM-Forscher fanden heraus, dass 80% bahnbrechender Entwicklungen auf unerwarteten Begegnungen mit Ideen außerhalb des eigentlichen Suchfeldes basieren.
Für unser Wohlbefinden gilt Ähnliches: Menschen, die regelmäßig neue Erfahrungen machen – selbst kleine wie ein anderer Weg zur Arbeit –, zeigen 17% höhere Werte beim subjektiven Wohlbefinden als jene mit streng routinierten Lebensweisen.
Die Geschichte der Post-it Notes illustriert diese Dynamik perfekt. 1968 versuchte der 3M-Chemiker Spencer Silver einen superstarken Klebstoff zu entwickeln. Stattdessen schuf er einen schwachen, repositionierbaren Kleber – ein kompletter „Fehlschlag”, wie er es nannte. Sechs Jahre lang suchte Silver nach einer Anwendung für seinen „nutzlosen” Kleber. Dann hörte ein Kollege, Art Fry, Silvers Vortrag über die gescheiterte Erfindung. Fry ärgerte sich gerade darüber, dass seine Lesezeichen aus dem Gesangbuch fielen. Plötzlich machte es klick: Silvers schwacher Kleber war die Lösung für sein kleines Problem.
Das Ergebnis? Ein Produkt, das heute Milliarden von Dollar wert ist und Büros weltweit revolutioniert hat. Aber es entstand nur, weil zwei Menschen offen blieben für das Unerwartete – Silver für ein „gescheitertes" Experiment, Fry für eine ungewöhnliche Verbindung zwischen einem Klebstoff und einem Kirchenlied.
Serendipität berührt eine fundamentale philosophische Frage: Wie viel Kontrolle haben wir wirklich über unser Leben? Und noch wichtiger: Wie viel sollten wir haben wollen?
Die stoischen Philosophen der Antike lehrten eine radikale Unterscheidung zwischen dem, was in unserer Macht steht, und dem, was nicht. Epiktet formulierte es so: „Manche Dinge stehen in unserer Macht, andere nicht“. Was er meinte: Wir können unsere Anstrengungen kontrollieren, aber nicht unbedingt die Ergebnisse.
In unserer Kultur der strategischen Lebensplanung gilt Offenheit für das Ungeplante oft als Schwäche. „Er hat keinen klaren Plan“ ist selten als Kompliment gemeint. Doch diese Einstellung übersieht etwas Wesentliches: Die Illusion totaler Kontrolle macht uns nicht nur unglücklicher – sie macht uns auch weniger menschlich.
Der französische Philosoph Gabriel Marcel unterschied zwischen einem Problem und einem Geheimnis. „Probleme kann man lösen. Geheimnisse muss man leben.” Das Leben, so Marcel, ist ein Geheimnis – nicht im Sinn eines Rätsels, das wir irgendwann knacken, sondern als etwas, das größer ist als unser Verstand. Wir können es nicht kontrollieren. Nur annehmen.
Diese Offenheit erfordert etwas, das unserer Zeit fehlt: Mut und Demut. Den Mut zuzugeben, dass wir nicht alles kontrollieren können. Die Demut zu vertrauen, dass sich manche Wege erst im Gehen offenbaren. Und die Weisheit zu erkennen, dass diese Ungewissheit nicht unser Feind ist, sondern das, was das Leben lebendig macht.
Wie können wir Serendipität kultivieren? Hier sind drei Vorschläge:
1. Schaffen Sie bewusst Raum für Zufälle: In einem Forschungslabor wurde ein einfaches Experiment durchgeführt: Die Teilnehmer reservierten täglich 20 Minuten für „ungeplante Aktivitäten“ – sei es ein Spaziergang ohne Ziel oder das Lesen eines zufällig ausgewählten Artikels. Nach vier Wochen berichteten 60% von mindestens einer „wertvollen unerwarteten Entdeckung“. Die Kontrollgruppe mit durchgeplanten Aktivitäten lag bei nur 21%. Die Lektion ist klar: Serendipität braucht Raum zum Atmen. In meinem eigenen Leben habe ich begonnen, einen Slot für „strukturierte Zufälle“ zu reservieren – Zeit ohne Agenda, in der ich neuen Menschen begegne, unbekannte Orte besuche oder mich mit Ideen außerhalb meines Fachgebiets beschäftige.
2. Kultivieren Sie intellektuelle Bescheidenheit: Die Forschung zeigt einen direkten Zusammenhang zwischen intellektueller Bescheidenheit – der Fähigkeit, die Grenzen des eigenen Wissens anzuerkennen – und der Häufigkeit serendipitärer Erfahrungen. Menschen, die zugeben können, dass sie nicht alles wissen, sind offener für neue Informationen und erkennen leichter überraschende Verbindungen. Diese Bescheidenheit ist keine Schwäche, sondern eine Stärke: Sie ermöglicht uns zu lernen und zu wachsen, wo andere in ihren Überzeugungen gefangen bleiben.
3. Üben Sie „produktive Ablenkung“: Es mag kontraintuitiv klingen, aber unsere produktivsten Momente sind oft nicht die, in denen wir uns am intensivsten konzentrieren. Neurowissenschaftliche Studien zeigen, dass unser Gehirn besonders kreativ ist, wenn es zwischen fokussierter Arbeit und entspannter Ablenkung wechselt. „Produktive Ablenkungen“ – bewusste Pausen vom konzentrierten Denken – erhöhen nachweislich unsere Fähigkeit, unerwartete Verbindungen herzustellen. Das erklärt, warum so viele wichtige Entdeckungen unter der Dusche, beim Spazierengehen oder während anderer scheinbar „unproduktiver“ Aktivitäten gemacht werden.
Vor einigen Jahren sprach ich für ein Projekt mit Menschen am Ende ihres Lebens über ihre glücklichsten Momente. Fast alle sprachen von Ereignissen, die sie nicht geplant hatten – überraschenden Begegnungen, unerwarteten Wendungen, zufälligen Entdeckungen.
Eine 94-jährige Mathematikerin sagte etwas, das ich nie vergessen werde: „Die Gleichung meines Lebens enthielt immer eine Variable, die ich nicht kannte. Und genau diese Variable machte das Leben lebenswert“. Ihre Worte berühren etwas Tieferes als Lebensplanung oder Karrierestrategie. Sie sprechen von einer grundlegenden Wahrheit über die menschliche Existenz: Wir sind nicht die alleinigen Autoren unserer Geschichte. Wir sind Mitschreibende in einem größeren Narrativ, dessen vollständigen Plot wir nie kennen werden.
Der deutsche Philosoph Hans-Georg Gadamer nannte das die „Horizontverschmelzung”, also jenen Moment, in dem unser begrenzter Horizont auf einen anderen trifft und beide dadurch erweitert werden. Diese Begegnungen – mit anderen Menschen, Ideen oder Erfahrungen – sind das, was uns über uns selbst hinauswachsen lässt. Das ist vielleicht der wirkliche Grund, warum Serendipität so wertvoll ist: Sie erinnert uns daran, dass wir Teil von etwas Größerem sind.
In unserer durchgetakteten Welt wird die Fähigkeit, offen zu bleiben für das Unerwartete, zu einem seltenen Gut. Nicht weil sie uns mehr materielle Güter beschert, sondern weil sie uns mit dem verbindet, was uns zutiefst menschlich macht: Neugier, Staunen und die Bereitschaft, überrascht zu werden – nicht nur von anderen, sondern auch von uns selbst.
Der klügste Lebensplan ist vielleicht, nicht alles zu planen – sondern Raum zu lassen für jene ungeplanten Momente, die oft die wertvollsten sind.
Haben Sie letzte Woche jemanden Fremden kennengelernt? Sind Sie einen neuen Weg zur Arbeit gegangen? Falls nicht, können Sie heute damit beginnen. Das Glück, das Sie finden, wird vielleicht nicht das sein, nach dem Sie gesucht haben – und genau darin liegt seine Schönheit.
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