Perfektion - Freund oder Feind?

Der Wunsch, perfekt zu sein und zu agieren, belastet viele Menschen, denn egal, was man erreicht, es ist doch letztlich scheinbar nie gut genug. Perfektion ist ein Teufelskreis, eine ewige Jagd, die nicht selten in Selbstzweifel, Stress und Unglück endet. Der Betroffene kann sich selbst nicht am Erreichten erfreuen. Perfekt zu sein erfordert ein Höchstmaß der Handlungen und Leistungen zu erreichen, das nicht überschritten werden darf.

Perfektionismus ist wesentlich komplexer als es auf den ersten Blick zu sein scheint. Denn Perfektionisten neigen einerseits dazu, unflexible und übermäßig hohe Standards zu setzen. Sie bewerten ihr eigenes Verhalten sehr kritisch und legen eine Entweder-oder-Denkweise an den Tag („Entweder ist meine Arbeit perfekt oder sie ist eine Katastrophe“). Das führt zu Burnout, Unzufriedenheit, Stress und Antriebslosigkeit. Perfektionismus kann aber andererseits auch Vorteile haben: Perfektionisten streben nach Verbesserung und auch Innovation. Sie sind diszipliniert und detailorientiert. Aber was macht den Unterschied?

Problematisch wird es vor allem dann, wenn Standards gesetzt werden, die schlicht und ergreifend unmöglich zu erfüllen sind. Eine Maschine oder ein Computer funktioniert möglicherweise einwandfrei - zumindest für eine Weile. Im Laufe der Zeit wird aber auch dieser abgenutzt und muss irgendwann repariert werden. Der Mensch allerdings ist gar nicht gedacht perfekt zu sein. Das Unperfekte ist Teil des Menschseins.

Studien zeigen, dass es zwei verschiedene Arten von Perfektionismus gibt: Die eine Dimension, bei der der Perfektionist übermäßig hohe Anforderungen an sich, aber auch an die Leistung von anderen stellt (das Streben nach Vollkommenheit). Und die andere, bei der Fehler vermieden werden und die gekennzeichnet ist durch eine extreme Angst vor einem möglichen Versagen (übertriebene Fehlerbesorgnis). Letzteres betrifft vor allem Personen, die von Beginn ihres Lebens an das Gefühl bekommen haben, nicht gut genug zu sein. Das bedeutet im Umkehrschluss, dass sie dann gut, akzeptiert und geliebt werden, wenn sie perfekt wären.
Perfektionismus ist demnach ein Ausgleich für frühere Lebenserfahrungen betrachten, die das Wohlbefinden und das Selbstwertgefühl eines Menschen verletzen. Als kompensatorische Antwort wird der Drang nach Perfektion irrtümlicherweise als Lösung gesucht (“Wenn ich perfekt bin und keine Fehler mache, dann werde ich akzeptiert und geliebt”).

Das Streben nach Perfektion ist - egal, welche Dimension Sie nehmen - in den meisten Fällen eine Verkleidung der eigenen Unsicherheit. Wenn wir unsicher sind, beurteilen wir uns selbst und alles um uns herum. Perfekt zu sein soll das Gefühl der Unzulänglichkeit ausgleichen.

In unserer Kultur bewegen wir uns unermüdlich in Richtung starker Betonung auf Ergebnisse: Wir fragen unsere Kinder, was sie für eine Note bekommen haben, nicht, was sie gelernt haben. Wir neigen dazu, unser Leben in Bezug auf Erfolg und Leistung zu messen und verlieren die Perspektive dafür, was es bedeutet, zufrieden zu sein. Das zerstört jedes Gleichgewicht in unserem Leben. Wir verlieren dadurch die Fähigkeit zu staunen, den Moment einfach nur wahrzunehmen und ehrfurchtsvoll zu sein: Sie würden doch niemals einen herrlichen Regenbogen ansehen und sich darüber beklagen, dass die Breite einer Farbe nicht exakt den anderen entspricht, nur weil sie schmaler als die anderen Farben erscheint? Das wäre nicht nur lächerlich, wir würden auch den Glanz des Augenblicks ruinieren. Aber genau das tun wir, wenn wir uns selbst für unsere Unvollkommenheiten beurteilen. Wir vergessen, dass wir als Menschen Teil der Natur sind. Insofern würden wir davon profitieren, wenn wir den natürlichen Fluss des Lebens akzeptieren würden, der eben unvollständig ist.

Wir leben dann, wenn wir im Moment sind. Der Perfektionist ist jedoch normalerweise nicht im Jetzt anwesend, da er entweder damit beschäftigt ist, die Vergangenheit zu versuchen zu verbessern oder sich über seine zukünftigen Entscheidungen Sorgen zu machen. Das Streben nach Perfektion raubt uns oft die Vitalität des Lebens.

Im Grunde ist der Begriff der Perfektion ein einfaches Konstrukt unseres Geistes, der keine andere Basis hat, als die unserer eigenen Gedanken und Beurteilungen. Wir verinnerlichen das Modell der Vollkommenheit und geben ihm eine intrinsische Wahrheit. Den Rest unseres Leben verbringen wir möglicherweise damit, diese "Wahrheit" zu erfüllen.

Wenn jemand jemals diesen unmöglichen Zustand der Perfektion erreichen könnte, würden ironischerweise nur sehr wenige Menschen ihn oder sie tolerieren. Für den Einzelnen wäre es eine ständige Erinnerung an die eigenen Mänge und Unzulänglichkeiten. Ganz zu schweigen davon, dass es wahrscheinlich keinen Spaß machen würde, mit dabei zu sein.

Wir sind alle einzigartige Wesen geboren mit Talenten und Fähigkeiten, die sonst niemand anderer hat. Versuchen Sie nicht durch die Illusion von Perfektion Sicherheit und Akzeptanz im Außen zu finden, sondern lernen Sie sich so zu akzeptieren wie Sie sind. Und genießen Sie lieber die Schönheit eines jeden Regenbogens, den Sie sehen.