Warum wir unsere Veränderungsfähigkeit falsch einschätzen

Menschen treffen im Laufe ihres Lebens ab und an Entscheidungen, die sie zu einem späteren Zeitpunkt so nicht getroffen hätten. Ein Grund dafür ist, dass die Geschwindigkeit der eigenen Veränderung oft falsch eingeschätzt wird. Zu dieser Erkenntnis sind Forscher im Laufe einer Studie gekommen, für die sie die Persönlichkeiten, Werte und Vorlieben von mehr als 19.000 Menschen im Alter von 18 bis 68 Jahren gemessen haben. Die Probanden wurden dazu in einer Reihe von Tests nach zwei Dingen gefragt: 1. Wie sehr sich die Probanden selbst in den letzten zehn Jahren verändert haben und 2. wie sehr sie sich in den nächsten zehn Jahren verändern würden. Vom Ergebnis waren selbst die Wissenschaftler überrascht: In jeder Altersklasse unterschätzten die Teilnehmer:innen den Grad an Veränderung, den sie durchlaufen hatten, um ein Vielfaches.

Zeit ist eine große Macht. Sie verändert alles um uns herum: unsere Vorlieben, unsere Werte, unsere Persönlichkeit. Das alles können wir allerdings meistens nur im Rückblick erkennen. Dabei ist jeder Mensch zu jedem Zeitpunkt ein noch unvollendetes Meisterstück. Wir halten uns zwar für schon längst vollendet, aber der Mensch, der Sie in diesem Moment sind, ist dennoch so vergänglich und unfertig, wie der, der Sie 10 Jahre zuvor waren. Die einzige Konstante im Leben ist und bleibt die Veränderung.

Die meisten Menschen denken, dass die Dinge, wie sie jetzt sind, auch so bleiben werden. Die Forscher nennen diesen Effekt die „Illusion vom Ende der eigenen Geschichte“. Wenn es Ihnen gerade gut geht und Sie eine Glückssträhne haben, dann kann dieses Denken sehr hilfreich sein. Aber wenn Sie gefühlt gerade am Boden liegen oder Sie eine schmerzhafte Erfahrung durchleben müssen, wird diese Einstellung zu einem großen Problem.

Dabei ist alles, was ein Mensch im Laufe seines Lebens erlebt, einfach nur ein nächster Schritt im Wachstum. Mit jedem Schritt, mit jeder Erfahrung, lernt der Mensch mehr, um weiterzugehen und an einen neuen Ort zu gelangen. Wenn Sie jede Katastrophe und jeden Glücksgriff als einen weiteren Schritt im Leben sehen, dann erkennen Sie, wie leicht die Menschen die Herausforderung, sich den Wandel vorzustellen, mit der Unwahrscheinlichkeit des Wandels selbst verwechseln. Dabei kann niemand die eigene Zukunft vorhersagen.

In einem meiner ersten Jobs habe ich zum Beispiel miterlebt habe, wie ein Mitarbeiter entlassen wurde. Es war schrecklich, es hat mir fast mein Herz zerrissen. Während die Tränen die Wangen hinunter geronnen sind, blickte der Mitarbeiter nur zu seinem Schreibtisch und sagte „Ich dachte, ich würde hier für immer sein. Was soll ich jetzt nur tun?“ Alle sahen beschämt weg, niemand wusste eine Antwort. Vor ein paar Jahren traf ich zufällig diesen Mitarbeiter wieder und er erzählte mir, dass ihm nichts Besseres hätte passieren können, als zu diesem Zeitpunkt den Job zu verlieren. Durch den Verlust des Jobs musste er sich neu orientieren und fand in einem vollkommen anderen Bereich ein Unternehmen, deren Chef er nun geworden ist. Das wiederum hat dazu geführt, dass er sein komplettes Leben umgestellt hat. So glücklich wie zu diesem Zeitpunkt war er zuvor noch nie.

Wie kommt es nun, dass jemand nach so langer Zeit auf ein damals so negatives Erlebnis so positiv reagiert? Nun: Menschen verwechseln die Herausforderung, sich Veränderung vorzustellen („Was mache ich jetzt?“) mit der Unwahrscheinlichkeit der Veränderung selbst („Ich werde nie einen anderen Job finden!“). Mit anderen Worten: Weil sich Menschen die Veränderung nicht vorstellen können, glauben sie, dass alles so bleibt wie es gerade ist. Sich die Veränderungen bei sich selbst vorzustellen, ist sehr schwierig, deswegen finden sie in Gedanken nicht statt. Aber die Veränderung wird kommen. Sie tut es immer.

Veränderung ist immer ein Schritt. Das Scheitern, das Aufstehen, die schwierige Lebenserfahrung - all das ist immer nur ein Puzzle-Teil eines Bildes, ein Teil eines großen Ganzen. Wir blicken dabei aber immer nur auf einen Teil, ohne zu wissen, wie das ganze Bild am Ende aussehen wird. Das Schöne ist, dass unser Denken, dass jeder Fehler ins Verderben führt, deswegen auch so nicht stimmt. Das Gehirn glaubt vielleicht, dass es das Ende ist. Aber dem muss nicht so sein. Im Gegenteil.

Wenn Sie gerade einen Verlust erlitten oder eine schmerzhafte Erfahrung gemacht haben, wenn Sie glauben, dass Sie irgendwo feststecken und keinen Ausweg mehr sehen, dann bleiben Sie kurz stehen und erinnern Sie sich, dass Sie mitten in einer Veränderung stecken. Es gibt noch so viele Teile, die Sie zusammensetzen können. Noch so viele Schritte, die Sie gehen können. Vertrauen Sie darauf, dass Sie gerade einen neuen Puzzle-Stein bekommen haben, mit dem Sie das Bild erweitern. Haben Sie den Mut, daran zu glauben, dass Sie gerade dabei sind, an einen neuen Ort zu gelangen, der Ihnen sehr wahrscheinlich noch viel besser gefallen wird, als der, an dem Sie gerade sind. Auch wenn Sie es im Moment (noch) nicht sehen.