Ist es wirklich so falsch Recht zu haben?

Ich habe die letzten zehn Jahre meines Lebens damit verbracht, die menschliche Natur in verschiedenen Situationen zu beobachten und zu versuchen, die Handlungen von Menschen besser zu verstehen. Diese Beobachtungen zeigen immer wieder deutlich, wie faszinierend der menschliche Geist eigentlich ist. Mit seiner Hilfe können wir komplexe Probleme lösen, uns erstaunliche Ideen vorstellen und Herausforderungen meistern. Er bringt uns auf unzählige andere Weise mehr Klarheit und Verständnis. Aber: weder unsere positiven noch unsere negativen Wahrnehmungen spiegeln die absolute Realität wider. All diese Sichtweisen sind vielmehr Interpretationen von uns selbst, von anderen Menschen und von einer Welt, die von unserer mentalen Software erzeugt werden. Der Unterschied zwischen dem, was ist und dem, was ich denke, das ist, kann allerdings äußerst überzeugend sein. Und das führt dazu, dass der Mensch in manche Situationen gar nicht erkennt, wenn er sich irrt.

Gerade in Konversationen, in denen eigentlich Meinungen und Annahmen ausgetauscht werden sollten, um gemeinsam eine bessere Lösung zu finden als alleine, kommt es immer wieder zu Verwirrungen. Die jeweilige Überzeugung, die eigentliche Wahrheit zu kennen, macht es schwierig bis unmöglich dem anderen wirklich zuzuhören. Dazu ein Beispiel eines typischen Diskussionsablaufs:

  1. Der Anfang beginnt ganz harmlos: Sobald Person A Person B in dessen Sichtweise oder Meinung nicht zustimmt, greift die Annahme, dass Person B nicht ganz verstanden hat, was eigentlich gemeint ist. Vielleicht hat B einfach keinen Zugriff auf Informationen? Also wiederholt A großzügig die eigenen Annahmen und Informationen. Schließlich will Person A der Person B helfen, Licht am Ende des Tunnels zu erblicken und dankbar auf die andere – die richtige – Seite zu wechseln.

  2. Wenn Person B aber trotz der neuen Informationen dennoch weiterhin stur an seiner eigenen Sichtweise festhält, kommt es zu einer neuen Hypothese: Person B hat zwar alle passenden Puzzleteile, aber B ist einfach nicht in der Lage, die Teile auch korrekt zusammenzusetzen. Vielleicht fehlt es Person B an Intelligenz oder der eigene Standpunkt wurde noch nicht deutlich genug erklärt. Also wiederholt Person A leicht genervt die bereits bekannten Argumente in einer Art Dauerschleife.

  3. Wenn sich dann aber herausstellt, dass Person B bereits über die gleichen Fakten verfügt und auch noch ziemlich klug ist, aber immer noch nicht zustimmt, wechselt Person A zu einer weiteren Hypothese, die dann letztlich die Schärfe der Diskussion bestimmt: Person B kennt wohl die Wahrheit, aber B verzerrt sie absichtlich, um Person A entweder zu schaden oder weil Person B einfach ignorant ist.

    Das Ende der Geschichte ist, dass beide Seiten stur an der eigenen Sichtweise festhalten und das Gespräch beendet wird - jeweils in der festen Überzeugung im Recht zu sein.

Dabei ist dieses innere Gefühl der Richtigkeit, das die meisten von uns von klein auf in sich etabliert haben und das jeder von uns so oft erlebt, keine verlässliche oder gar hilfreiche Referenz. Es zeigt uns nicht das, was tatsächlich in der Welt vor sich geht.

Wenn die Menschen aber weiterhin so tun, als ob ihre Sichtweise die einzig richtige wäre, dann ziehen sie einfach nicht mehr die Möglichkeit in Betracht, sich selbst zu irren. Diese Treue zur eigenen Richtigkeit hält Menschen davon ab, im richtigen Moment voneinander zu lernen. Was aber noch viel schlimmer ist: Dieses Beharren im Besitz der einzigen Wahrheit zu sein bringt Menschen dazu, einander schrecklich zu behandeln.

Dabei ist es zutiefst menschlich sich zu irren. Jeder irrt sich – das gehört einfach zum Leben dazu. Nur wenn wir falsche Annahmen treffen, diese ausprobieren und Fehler machen, können wir lernen und wachsen. Irrtümer sind keine peinlichen Defekte in unserem menschlichen System. Wir alle wissen, dass jeder sich unzählige Male im Laufe seines Lebens irrt. Und wir alle finden das okay - bei den anderen. Wenn es um einen selbst geht – um den eigenen Glauben, die eigene Realität, die eigene Gegenwart – dann existieren so etwas wie Fehlannahmen oder Irrtümer plötzlich nicht mehr. Viel zu viele Menschen glauben, dass mit ihnen etwas nicht stimmt, wenn sie sich irren. Es fühlt sich einfach nicht gut an, sich zu irren. Also beharren sie lieber weiterhin darauf, Recht zu haben.

Nun sind Menschen aber nicht deswegen einzigartige Wesen, weil sie die Welt sehen, wie sie ist. Vielmehr sieht ein jeder von uns die Welt, wie sie nicht ist. Wir alle haben unsere eigene Vergangenheit, an die wir uns erinnern, und unsere eigene Zukunft, über die wir nachdenken. Wir alle entwickeln im Laufe der Zeit andere Ideen vom Leben. Wir alle blicken in denselben Himmel und sehen trotzdem ganz unterschiedliche Dinge. Und das macht uns einzigartig.

Wenn Menschen einander verstehen wollen, um glücklich und zufrieden mit- und nebeneinander zu leben, dann müssen sie aus dem eigenen, beengten Raum der Richtigkeit heraustreten, bewusst in die Weite blicken und sagen: “Vielleicht hast du Recht. Vielleicht irre ich mich tatsächlich. Lass es uns herausfinden. Erzähl mir einfach mal mehr von deiner Welt". Und dann sollten sie sich entführen lassen – in eine Welt, die so bunt, so vielfältig und so schön sein kann, wie sie es sich vorher nicht erträumen konnten.

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