Die Schattenseite von Empathie

Empathie zählt heutzutage zu einer der wichtigsten Eigenschaften, die eine Führungskraft haben sollten. Als das Wort „Empath“ jedoch zum ersten Mal 1956 in einer englischen Sciene-Fiction-Geschichte erwähnt wurde, war es alles andere als ein positiv besetztes Wort. Im Gegenteil: Der Empath wurde darin als ein unnatürliches Wesen beschrieben, das gnadenlos die Arbeiter ausbeutet.

Isoliert angewandt können Empathen anderen enormen Schaden zufügen. Denn sie spüren besser als andere, wo der Schmerz und die Schwäche sitzt. Anstatt blind danach zu streben, einfach nur empathisch zu agieren, sollte das Ziel meiner Meinung nach vielmehr darin liegen, Empathie aufzubauen, um wirklich zu begreifen, wie sich jemand fühlt, um danach mitfühlend Lösungen zu entwickeln, die sinnvoll und dauerhaft nutzbringend sind.

Die Begriffe Mitleid, Sympathie und Empathie werden oft synonym und in einem Atemzug verwendet. Aber Empathie hat nichts damit zu tun, Mitleid für jemandem zu empfinden, der körperliche oder emotionale Schmerzen erleidet – das ist Sympathie. Es ist der kleine, aber feine Unterschied zwischen "Gute Besserung!" und "Ich kann deinen Schmerz nachempfinden". Empathie bedeutet, sich wirklich mental in die Lage einer anderen Person zu versetzen, um all die Empfindungen zu spüren, die diese Person wahrnimmt. In der Forschung gibt es die Theorie, dass Empathen mehr als andere Menschen Spiegelneuronen besitzen, die hyperaktiv sind und die vor allem dann reagieren, wenn sie das Verhalten anderer Menschen beobachten. Empathie ist also in gewisser Weise sogar genetisch veranlagt.

Menschen, die wirklich empathisch agieren, sind zweifellos eine Hilfestellung, um das Leid anderer zu verringern. So können Patienten beispielsweise viel besser mit schlechten Nachrichten umgehen, wenn ihre Ärzte einfühlsam sind und zeigen, dass sie persönlich nachvollziehen können, was der Patient durchmacht.

Allerdings hat diese Form der Empathie einen hohen Preis: Forscher konnten nachweisen, dass empathische Personen ihre eigenen negativen Gefühle als Reaktion auf die Not anderer verstärken. Das ergibt auch durchaus Sinn: Wenn Sie den Schmerz anderer auf sich nehmen, vermehren Sie dadurch den Schmerz in Ihrem eigenen Leben. Deswegen kann Empathie auch großen Schaden verursachen: Manches Mal beinhaltet ein Akt der Liebe, etwas zu tun, das kurzfristig Schmerz verursacht, wie jemanden eine unangenehme Wahrheit mitzuteilen. Empathen versuchen diesen Schmerz zu vermeiden, was dazu führen kann, dass sie diese Nachricht abmildern oder erst gar nicht mitteilen.

Es geht mir nicht darum, Empathie zu verdammen oder gar zu vermeiden, vielmehr geht es mir darum, einen Weg aufzuweisen, wie Empathie richtig genutzt werden kann, um echtes Mitgefühl aufzubauen und so eine Möglichkeit zu schaffen, anderen zu helfen. Mitgefühl wird in der Psychologie als ein Gefühl der Sorge um das Leiden anderer definiert, das mit der Motivation verbunden ist, zu helfen. Angesichts des Leidens eines anderen härter und unnachgiebiger zu sein, bedeutet nicht, das Leiden nicht nachvollziehen zu können. Es bedeutet, den Schmerz zu spüren, ohne in ihrem Handeln beeinträchtigt zu werden.

Eine Studie zeigte, dass Probanden, die sowohl eine Schulung in Mitgefühl als auch in Empathie bekamen, im Vergleich zu den Probanden, die nur ein Empathietraining durchliefen, ihre negativen Gefühle zwar erkannten, aber trotzdem ihre positiven Gefühle erhöhen konnten. Wenn Sie also lernen, andere in deren Leid wirklich zu verstehen, um danach mittels Mitgefühl den Schmerz dieser Person zu lindern, profitieren Sie beide davon.

Ich erlebe das immer wieder in meinen Beratungen, wenn ich Menschen dabei unterstütze, die Bedürfnisse ihrer Kunden besser zu verstehen und danach sinnvolle Lösungen zu entwickeln. Es macht einen Unterschied zu verstehen, wie sich beispielsweise eine alte Person fühlt, um das Problem in seiner Gesamtheit besser zu verstehen. Aber Sie müssen dann wieder in Ihren Status zurücktreten, um eine gute Lösung zu entwickeln, die vielleicht am Anfang unangenehm für diese Person ist. So leiden empathische Eltern mit ihren Kindern, wenn sie in der Schule Probleme haben, aber mitfühlende Eltern widerstehen eher dem Drang, in die Schule zu gehen und den Kampf für ihre Kinder durchzuführen.

Wenn Menschen Schmerzen leiden, können sie oft nicht die Lösung sehen, weil sie im Moment sogar noch schmerzhafter ist. Deswegen bleiben Menschen in toxischen Beziehungen – das Verlassen scheint in dem Moment zu schlimm zu sein, um damit fertig zu werden. Mitfühlende Menschen können Dinge tun, die die leidende Person in dem Moment vielleicht ablehnt - aber sie tun sie trotzdem, weil sie wissen, dass es zu deren Besten ist. Mitgefühl kann bedeuten ehrliche Ratschläge zu geben, die schwer zu verstehen sind, sich von Mitarbeitenden zu verabschieden, die nicht zum Unternehmen passt, oder Nein zu einem enttäuschten Kollegen zu sagen.

Mitgefühl hat viele Gesichter. Manche von ihnen sind wütend, manche sind zärtlich, manche sind weise. Der Dalai Lama sagte einmal, dass Liebe und Mitgefühl Notwendigkeiten und keine Luxuswaren wären. Ohne sie kann die Menschheit nicht überleben. Stellen Sie sich Empathie als einen Kanal vor, der Menschen miteinander verbindet. Mitgefühl ist das, was durch den Kanal fließt und das Ergebnis ist ein Handeln, das darauf abzielt, das Leiden anderer zu lindern oder die Entwicklung anderer zu fördern. Um sich um das Wohlbefinden anderer zu sorgen, müssen Sie nicht in deren Schmerz verweilen. Sie müssen einfach nur der Überzeugung sein, dass jedes Leben etwas wert ist und dass es sich lohnt, Leiden so weit wie möglich zu minimieren und Freude zu maximieren.



In diesem Video erkläre ich den Unterschied zwischen Empathie, Sympathie und Mitleid.