Das befreiende Prinzip der Mittelmäßigkeit

Vor einigen Jahren begegnete ich Ludwig, einem Projektmanager in einem mittelständischen Unternehmen. „Ich bin sicher nicht brillant, aber ich bin wirklich zuverlässig“. In diesem schlichten Satz lag eine tiefe Weisheit verborgen, die mich zu einer grundlegenden Frage führte: Könnte es sein, dass wir als Gesellschaft den wahren Wert der Mittelmäßigkeit missverstehen?

Die antiken Griechen sprachen von „arete“ – Exzellenz als moralische Tugend. Heute haben wir dieses Konzept in ein atemloses Streben nach Perfektion verwandelt, das uns paradoxerweise von einem guten Leben entfernt. Eine Langzeitstudie der Stanford University zeigt, dass Mitarbeitende mit konstant durchschnittlichen Leistungen häufiger befördert werden als ihre „brillanten, aber unberechenbaren“ Kollegen. Warum? Weil Verlässlichkeit ein soziales Kapital darstellt, das materiellen Wert übersteigt.

Denken Sie an Ihre eigene Erfahrungen: Würden Sie lieber mit einem genialen, aber unzuverlässigen Kollegen arbeiten oder mit einem soliden Praktiker, der immer für Sie da ist? Die Antwort liegt nicht in glänzenden Momenten der Brillanz, sondern in der täglichen Praxis des Vertrauens.

Die Neurowissenschaft unterstützt diese Sichtweise. Unser Gehirn ist eine erstaunliche Vorhersagemaschine, die etwa 30% seiner kognitiven Ressourcen darauf verwendet, die Zukunft zu antizipieren. Wenn jemand konstant mittelmäßige Leistungen erbringt, können wir sein Verhalten vorhersagen – und das beruhigt unser neuronales Belohnungssystem. Der Nobelpreisträger Daniel Kahneman nennt das den „Vertrauenseffekt“: Wir vertrauen dem Bekannten mehr als dem Außergewöhnlichen.

Was wir in unserer Gesellschaft selten diskutieren, ist der seelische Preis der Perfektion. Eine Studie des Max-Planck-Instituts zeigt, dass Menschen mit perfektionistischen Tendenzen ein 33% höheres Risiko für Burnout und Depression haben. Die stoischen Philosophen wussten es bereits: Das gute Leben liegt nicht im Streben nach unerreichbarer Perfektion, sondern in der Akzeptanz des „gut genug“.

In unserer modernen Wirtschaft, die von der Suche nach dem „nächsten großen Ding“ getrieben wird, entsteht eine bemerkenswerte Lücke. Während alle anderen versuchen, außergewöhnlich zu sein, wird Verlässlichkeit zum wahren Differenzierungsmerkmal. Das ist keine Kapitulation vor der Mittelmäßigkeit, sondern eine bewusste moralische Wahl.

Auch im Innovationsmanagement zeigt sich die Kraft der kleinen Schritte. In unserer Beratung erlebe ich oft, wie Unternehmen die Vorstellung haben, dass Innovation immer etwas Großes, Revolutionäres sein muss. Doch tatsächlich entstehen die nachhaltigsten Veränderungen durch alltägliche Innovation: kleine, konsequente Verbesserungen, die sich mit der Zeit zu bedeutenden Fortschritten summieren. Wenn Teams lernen, öfters kleine Experimente zu wagen – ein neues Meeting-Format, eine andere Kundenansprache oder eine optimierte Prozessroutine – dann entwickelt sich Innovation nicht als Ausnahme, sondern als Gewohnheit. Diese Art der Innovation erfordert keine Brillanz, sondern Beharrlichkeit.

Wie können Sie dieses „Prinzip der Mittelmäßigkeit“ nun kultivieren?

  1. Definieren Sie bewusst, was für Sie „gut genug“ bedeutet. Stellen Sie sich vor, Sie beginnen ein neues Projekt. Anstatt nach Perfektion zu streben, legen Sie bereits zu Beginn drei Kriterien fest, die erfüllt sein sollen, um das Projekt als erfolgreich zu definieren. Dieser Ansatz befreit Sie von der Last der endlosen Verbesserungen. In einer Studie der Harvard Business School zeigte sich, dass Teams, die klare „gut genug“-Kriterien definierten, nicht nur produktiver waren, sondern auch mehr Zufriedenheit bei der Arbeit empfanden. Diese Disziplin des Genug-sein-Lassens ist paradoxerweise produktiver als das endlose Streben nach Perfektion.

  2. Konzentrieren Sie sich auf kleine, tägliche Verbesserungen. Statt nach der bahnbrechenden Innovation zu suchen, fragen Sie sich: „Wie kann ich heute 1% besser werden als gestern?“ Der britische Radsportcoach Dave Brailsford nannte diesen Ansatz „die Aggregation marginaler Gewinne“ und führte damit das britische Team zu olympischem Gold. Nehmen wir an, Sie möchten Ihre Präsentationsfähigkeiten verbessern. Anstatt einen teuren Workshop zu buchen und eine komplette Transformation zu erwarten, könnten Sie täglich fünf Minuten damit verbringen, einen Absatz laut vorzulesen. Nach einem Jahr hätten Sie über 30 Stunden Übung akkumuliert – und einen mehrtägigen Workshop, aber ohne den Stress der plötzlichen Veränderung.

  3. Investieren Sie in dauerhafte Beziehungen. In unserer Kultur der ständigen Disruption und Innovation verlernen wir die Kunst der Beständigkeit. Doch gerade hier liegt ein immenser Wert. Die längste Studie über menschliches Glück, die Harvard Study of Adult Development, kam zu einem klaren Ergebnis, dass die Qualität unserer Beziehungen der stärkste Prädiktor für unsere Lebenszufriedenheit ist. Was bedeutet das praktisch? Statt auf jedem Networking-Event nach dem nächsten „wichtigen Kontakt“ zu suchen, pflegen Sie die Beziehungen, die Sie bereits haben.

Mir erscheint das ganze wie eine tiefgründige Ironie: Indem wir Mittelmäßigkeit akzeptieren und kultivieren, erreichen wir oft etwas wahrhaft Außergewöhnliches – ein Leben in Balance, mit tiefen Beziehungen und nachhaltiger Zufriedenheit. Das ist keine Rechtfertigung für Faulheit oder mangelnden Ehrgeiz, sondern eine Einladung zur Reflexion über unsere Werte.

Was Ludwig, der Projektmanager, intuitiv verstanden hat: Mittelmäßigkeit ist keine Kapitulation vor der Durchschnittlichkeit, sondern eine bewusste Strategie der Nachhaltigkeit und des Wohlbefindens. In einer Welt, die von der Jagd nach dem Außergewöhnlichen erschöpft ist, könnte die kultivierte Mittelmäßigkeit der radikalste – und weiseste – Lebensentwurf sein.

Der amerikanische Theologe Reinhold Niebuhr sagte einst: „Gott gebe mir die Gelassenheit, Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann, den Mut, Dinge zu ändern, die ich ändern kann, und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden“. Vielleicht liegt in dieser Gelassenheit der Schlüssel zu einem guten Leben – nicht in rastloser Perfektion, sondern in der Kunst, gewöhnlich gut zu sein.